Sehen und gesehen werden – die Bedeutung der Augen Teil 2

Eule
Hilde Domin – Es gibt dich

Dein Ort ist
wo Augen dich ansehen
Wo sich Augen treffen
entstehst du.
 
Von einem Ruf gehalten,
immer die gleiche Stimme,
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen.
 
Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.
 
Es gibt dich,
weil Augen dich wollen,
dich ansehen und sagen
daß es dich gibt.
 

Dieses berührende Gedicht der Exilautorin Hilde Domin weist auf einen anderen Aspekt des Sehens hin: den des Erkennens und Liebens. Hilde Domin, die mit ihrem Mann vor den Nationalsozialisten von Deutschland zunächst ins europäische Ausland, und dann auf die Dominikanische Republik floh, hat in ihren Gedichten Themen wie Einsamkeit, Heimat und Identität verarbeitet.

Wenn wir einem geliebten Menschen begegnen, versuchen wir zu sehen, wie es dem anderen gerade geht. Wirkt er oder sie heiter oder bedrückt? Ist er oder sie gesund? Gleichzeitig wollen wir ebenso gesehen werden. Auch wenn manche Bemerkungen der Verwandtschaft nerven können – wie „du hast ja abgenommen“ – sind wir doch froh, wenn wir jemanden haben, der uns wahrnimmt und Gedanken über uns unverblümt ausspricht.

Nichts kann verletzender sein, als mit Menschen zusammen zu sein, die nur das Schlechte in einem sehen oder einen ganz ignorieren, wie als wäre man nicht da. Gemeinsam einsam.

Wenn man viele negative Erfahrungen mit Menschen hatte, zum Beispiel in Form von Mobbing, empfindet man es vielleicht als entspannter, nicht mehr gesehen, und damit nicht mehr verletzt zu werden. Man trägt eine symbolische Tarnkappe und verhält sich möglichst unauffällig, um nicht anzuecken und damit die Aggressionen anderer auf sich zu ziehen. Auch das Leben in der Großstadt kann zu mehr Unsichtbarkeit beitragen. Man geht draußen in der Masse der Menschen unter und lebt weitgehend unbekannt mit anderen Menschen im Gebäude. Anonymität anstatt Dorfgeläster.

Und doch brauchen wir das Gesehenwerden. Schon vom ersten Atemzug an kämpfen wir darum, gesehen und umsorgt zu werden. Später wollen wir (wenn wir heterosexuell sind) vom anderen Geschlecht bemerkt werden. Und von unseren Liebsten und dem/der Einen wollen wir in unserem Innersten gesehen, verstanden und geliebt werden.

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